Blog #9: Urteil 4A_428/2022 Erstmalige Verrechnungserklärung vor Bundesgericht

Sachverhalt

Die B. Foundation reichte gegen die A. AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage ein. Das Handelsgericht sprach der Foundation den eingeklagten Betrag zu. Es erkannte, dass in den Vorbringen der Beklagten A. AG keine Verrechnungserklärung zu erblicken sei (Sachverhalt B am Ende). Gegen diesen Entscheid erhob die A. AG (Beschwerdeführerin) Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht und erklärte Verrechnung.

Erwägungen

Da sich die Beschwerdeführerin vor dem Handelsgericht nicht auf die Verrechnung berufen hatte, stellte sich im Urteil 4A_428/2022 vom 25. September 2023 die Frage, ob sie die Verrechnung erstmals vor Bundesgericht ins Verfahren einbringen kann.

Das Bundesgericht führte dazu in den zur amtlichen Publikation vorgesehen Erwägungen folgendes aus:

„5.5. Was die Verrechnungserklärung vor Bundesgericht betrifft, beruft sich die Beschwerdeführerin auf eine Lehrmeinung [Dormann, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 34 zu Art. 99 BGG], wonach die Verrechnungseinrede als (blosse) Rechtsausübung vor Bundesgericht an sich zulässig sei, falls die der Verrechnungslage zugrunde gelegten Tatsachenbehauptungen bereits im kantonalen Verfahren vorgebracht worden seien […]. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dies sei hier der Fall, zumal alle relevanten Informationen mit Ausnahme der Höhe der Forderung schon in der Klageantwort und in der Duplik enthalten gewesen seien. Die betragsmässige Höhe sei in der Noveneingabe vom Oktober 2021 ergänzt worden. Deshalb sei die Beschwerdeführerin zur Verrechnungserklärung zuzulassen.

5.5.1. Nach Art. 99 BGG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Abs. 1). Dies trifft hier auf die Verrechnung nicht zu. Neue Begehren sind unzulässig (Abs. 2). Tatsachen oder Beweismittel, die sich auf das vorinstanzliche Prozessthema beziehen, jedoch erst nach dem angefochtenen Entscheid eingetreten oder entstanden sind (sog. echte Noven), sind vor Bundesgericht unbeachtlich […]. Sie sind ausnahmsweise zu berücksichtigen, wenn es um die Sachurteilsvoraussetzungen vor Bundesgericht geht […].

5.5.2. Im Gegensatz zu Art. 55 Abs. 1 lit. c OG äussert sich Art. 99 BGG nicht ausdrücklich über die Zulässigkeit neuer Einreden. Einreden sind nach der Botschaft zum BGG Rechtsbehelfe, die nicht von Amtes wegen berücksichtigt werden, sondern vielmehr allein in der Disposition der Parteien stehen. Als Beispiel wird neben der Verjährung ausdrücklich die Verrechnung genannt. Nach der Botschaft verbietet bereits der Vertrauensgrundsatz, mit der Erhebung solcher Einreden bis vor Bundesgericht zuzuwarten, denn keine Partei darf einen Entscheid nur wegen eines Fehlers in Frage stellen, für den sie selber verantwortlich ist […]. Entsprechend hat sich grundsätzlich an der Unzulässigkeit, die Verrechnungseinrede erstmals vor Bundesgericht zu erheben, mit der Einführung des BGG nichts geändert […].

5.5.3. Soweit die Verrechnung erklärt werden muss, damit sie Wirkung entfaltet (Art. 124 Abs. 1 OR), würde eine Berücksichtigung vor Bundesgericht (soweit die Gegenpartei die Verrechnung nicht anerkennt und im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis mit der Berücksichtigung einverstanden ist […] oder erst der angefochtene Entscheid zur Erhebung der Verrechnungseinrede Anlass gibt) voraussetzen, dass die Partei vor der Vorinstanz prozesskonform eine Verrechnungserklärung behauptet hat. Daran fehlt es, wenn die Verrechnung erst vor Bundesgericht erklärt wird. Eine Verrechnungserklärung vor Bundesgericht kann die Verrechnung bewirken, ist im Ergebnis aber analog zu behandeln wie eine nach Ausfällung des angefochtenen Entscheides erfolgte Zahlung. Ein anderes Ergebnis widerspräche nicht nur dem Willen des Gesetzgebers […], es liesse sich auch mit Blick auf die Novenregelung (der Schuldner hat seinen Willen zur Verrechnung erst nachträglich gebildet, was ein Novum darstellt; […]) und dem Erfordernis der materiellen Ausschöpfung des Instanzenzuges (die Vorinstanz des Bundesgerichts konnte die Verrechnung nicht von Amtes wegen berücksichtigen; […]) nicht rechtfertigen.

5.5.4. Wenn in der Literatur festgehalten wird, die Verrechnungseinrede sei zulässig oder könne berücksichtigt werden, wenn die Tatsachen und Beweisanträge, die sie begründen, novenrechtlich zulässig seien [Seiler, Bundesgerichtsgesetz, 2015, N. 42 zu Art. 99 BGG], beziehungsweise im kantonalen Verfahren die Tatsachen behauptet worden seien, die für das Bestehen einer verrechenbaren Gegenforderung konstitutiv sind [Dormann, a.a.O., N. 34 zu Art. 99 BGG], ist dies missverständlich. Soweit die Verrechnung gegenüber dem Verrechnungsgegner erklärt werden muss (Art. 124 Abs. 1 OR), um Wirkung zu entfalten, und dies erst vor Bundesgericht geschieht, wurden nicht sämtliche für eine Verrechnung konstitutiven tatsächlichen Elemente im kantonalen Verfahren behauptet […] und soweit nicht erst der angefochtene Entscheid dazu Anlass gibt, ist eine Ergänzung vor Bundesgericht novenrechtlich nicht zulässig. Aus der Rechtsprechung zur Berufung nach ZPO […] kann dazu nichts abgeleitet werden, da nach Art. 317 Abs. 1 ZPO auch erst nach dem erstinstanzlichen Entscheid entstandene Tatsachen berücksichtigt werden können. Dass die Verrechnung nach Art. 124 Abs. 3 OR […] oder sonstigen gesetzlichen Spezialvorschriften […] ohne Verrechnungserklärung hätte berücksichtigt werden können, behauptet die Beschwerdeführerin nicht.

5.5.5. Die vor Bundesgericht erklärte Verrechnung ist damit für den Ausgang des Verfahrens selbst dann unbeachtlich, wenn dadurch die Forderung teilweise getilgt worden sein sollte.“

Urteil 4A_428/2022 vom 25. September 2023

Bemerkungen

Unterschied zwischen Verrechnungserklärung / Verrechnungseinrede

Die Voraussetzungen und die Wirkungen der Verrechnung unterstehen dem OR (Verrechnung als materiellrechtliches Institut). Davon zu unterscheiden ist die prozessuale Verrechungseinrede (teilweise auch als Verrechungseinwendung bezeichnet). Die Verrechnungserklärung löst – nach materiellem Recht – die Verrechnungswirkung aus, währenddem die Einrede der Verrechnung im Prozess – nach den Regeln des Prozessrechts – die Frage der Verrechnung zum Prozessgegenstand macht (zum Ganzen: Urteil 5A_748/2015 vom 3. August 2016 E. 3.4 insb. E. 3.4.1 mit weiteren Hinweisen).

Grundsätzliche Unzulässigkeit der Verrechnungseinrede

Im früheren OG wurde in Art. 55 Abs. 1 lit. c ausdrücklich festgehalten, dass neue Einreden im damaligen Berufungsverfahren unzulässig waren. An der Unzulässigkeit, die Verrechnungseinrede erstmals vor Bundesgericht zu erheben, hat sich mit der Einführung des BGG grundsätzlich nichts geändert (E. 5.5.2; so auch Urteil 4A_290/2007 vom 10. Dezember 2007 E. 8.3.1).

Warum ist das so: Soweit die Verrechnung erklärt werden muss, damit sie Wirkung entfaltet (Art. 124 Abs. 1 OR; Ausnahme etwa Art. 124 Abs. 3 OR oder gesetzliche Spezialvorschriften), hat dies prozesskonform im kantonalen Verfahren zu erfolgen. Wird die Verrechnung erstmals vor Bundesgericht erklärt, wurden nicht sämtliche konstitutiven tatsächlichen Elemente im kantonalen Verfahren vorgebracht. Vor Bundesgericht ist daher die Verrechnungserklärung grundsätzlich novenrechtlich nicht zulässig (E. 5.5.4). Die Verrechnung ist daher im bundesgerichtlichen Verfahren unbeachtlich, auch wenn durch die Erklärung die Forderung materiellrechtlich allenfalls getilgt sein sollte (E. 5.5.5; die vor Bundesgericht erklärte Verrechnung kann materiell die Verrechnung bewirken [E. 5.5.3]).

Ausnahmsweise Zulässigkeit

Von der prozessualen Nichtberücksichtigung gibt es zwei Ausnahmen (E. 5.5.3):

  1. Der Prozessgegner anerkennt die Verrechnung und ist mit deren Berücksichtigung einverstanden.
  2. Erst der angefochtene Entscheid gibt zur Erhebung der Verrechnungseinrede Anlass (Art. 99 Abs. 1 BGG).

Konstellationen, bei der letztere Ausnahme greifen könnte und das Novenverbot nicht geltend würde, sind in der Praxis wohl selten (allenfalls bei einer völlig überraschenden Rechtsanwendung durch die Vorinstanz). Es empfiehlt sich daher, die Verrechnung rechtzeitig ins kantonale Verfahren einzubringen.

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