Blog #10: Materielle Ausschöpfung des Instanzenzugs bei einer (einzigen) kantonalen Instanz?
Grundsatz: Ausschöpfung des materiellen Instanzenzuges
Die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht ist gemäss Art. 75 Abs. 1 BGG gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen zulässig. Entscheiden diese nach dem Grundsatz von Art. 75 Abs. 2 BGG als Rechtsmittelinstanzen, so ist die Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs Voraussetzung für die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht.
Der Begriff der Letztinstanzlichkeit bedeutet, dass der kantonale Instanzenzug nicht nur formell durchlaufen, sondern auch materiell ausgeschöpft werden muss. Rügen, die dem Bundesgericht unterbreitet werden, sind (soweit möglich) schon vor Vorinstanz vorzubringen (Ausschöpfung des materiellen Instanzenzuges; dazu Blog #4).
Ausnahme: Nur eine kantonale Instanz
Dieser Grundsatz gilt somit, wenn die Vorinstanz als Rechtsmittelinstanz im Sinne von Art. 75 Abs. 2 BGG entschieden hat, also einen erstinstanzlichen Entscheid auf Rechtsmittel hin überprüfte.
Die Ausschöpfung des materiellen Instanzenzugs gilt hingegen meines Erachtens nicht, wenn die Vorinstanz nicht als Rechtsmittelinstanz, sondern als erste (und einzige) kantonale Instanz entschieden hat (Art. 75 Abs. 2 lit. a – c BGG), etwa bei Entscheiden des Handelsgerichts.
Dies aus den folgenden zwei Gründen:
- In dieser Konstellation gibt es vor Bundesgericht keinen kantonalen Instanzenzug, der für die Rügen hätte durchlaufen werden können. Es gibt nur eine kantonale Instanz.
- Als erstinstanzliche Gericht hat die Vorinstanz das Recht zu kennen und es von Amtes wegen anzuwenden (Art. 57 ZPO iura novit curia). Die Parteien sind nicht verpflichtet eine rechtliche Begründung zu liefern (Art. 221 Abs. 3 ZPO, Art. 222 Abs. 2 ZPO; e contrario; Urteile 5A_696/2019 vom 19. Juni 2020 E. 3.1.1; 5A_204/2019 vom 25. November 2019 E. 3.7.3). Da eine rechtliche Begründung in diesen Fällen vor der Vorinstanz nicht notwendig ist, kann der Partei im bundesgerichtlichen Verfahren nicht vorgeworfen werden, sie hätten ihre rechtliche Argumentation bereits vor der Vorinstanz vorbringen müssen und könnte deshalb – mangels vorinstanzlicher Vorbringen – mit dieser Rüge vor Bundesgericht nicht gehört werden.
Stützt sich der Beschwerdeführer also in diesen Fällen (einzige kantonale Instanz) vor Bundesgericht auf eine neue rechtliche Argumentation, die er vor der Vorinstanz noch nicht vorgebracht hat, ist er damit vor Bundesgericht zu hören. Eine mangelnde Ausschöpfung des Instanzenzugs kann ihm nicht vorgeworfen werden. Insoweit wird der Grundsatz der Ausschöpfung des materiellen Instanzenzuges eingeschränkt.
Achtung: Sachverhaltsbindung
In praktischer Hinsicht ist Folgendes zu beachten:
Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden, d.h. der Beschwerdeführer muss vor Bundesgericht seine rechtlichen Rügen auf den Sachverhalt abstützen, den die Vorinstanz festgestellt hat. Obschon dem Beschwerdeführer die materielle Ausschöpfung des Instanzenzugs bei der vorliegend besprochenen Konstellation nicht vorgehalten werden kann, wird es bei gänzlich neuen rechtlichen Fragestellungen wohl zumeist am Sachverhaltsfundament für die rechtliche Rüge fehlen, weil die Vorinstanz in aller Regel keinen Anlass hatte, entsprechende Feststellungen zu treffen (dazu auch Blog #4).
Abgrenzung: Formelle Rügen
Der Grundsatz der Ausschöpfung des materiellen Instanzenzuges ist vom Grundsatz abzugrenzen, dass formellen Rügen sofort vorzubringen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst es gegen Art. 2 ZGB (respektive Art. 52 ZPO), formelle Rügen, die in einem früheren Prozessstadium hätten geltend gemacht werden können, bei ungünstigem Ausgang noch später vorzubringen (BGE 141 III 210 E. 5.2; 135 III 334 E. 2.2; je mit Hinweisen). Dieses Prinzip gilt auch für den Fall, dass die Vorinstanz als erste Instanz urteilte.
So ist beispielsweise ein Ausstandsbegehren gegen einen Handelsrichter – unter Verwirkungsfolge – unverzüglich nach Kenntnis des Ausstandsgrundes zu stellen (BGE 141 III 210 E. 5.2; 136 I 207 E. 3.4).