Blog #12: BGE 150 III 89 = Urteil 4A_172/2023 Neues Rechtsgutachten vor Bundesgericht
In BGE 150 III 89, Urteil 4A_172/2023 vom 11. Januar 2024, äusserte sich das Bundesgericht zur prozessualen Behandlung eines im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren neu eingereichten Rechtsgutachtens.
Erwägungen des Bundesgerichts
In der Sache ging es um internationale Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Die Beschwerdeführerinnen reichten dem Bundesgericht ein neu erstelltes Gutachten von Prof. E. ein. Mit diesem Gutachten wollten sie darlegen, dass die im Investitionsschutzabkommen vorgesehene Möglichkeit, eine materielle Enteignung durch ein staatliches chinesisches Gericht feststellen zu lassen, gar nicht offenstand bzw. eine entsprechende Klage von vornherein aussichtslos wäre (E. 3 und E. 3.2).
Das Bundesgericht erwog dazu in Erwägung 3.1:
„Art. 99 Abs. 1 BGG, der auch in Verfahren der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu beachten ist (Art. 77 Abs. 2 BGG e contrario), verbietet grundsätzlich das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweise vor Bundesgericht. Das Novenverbot bezieht sich auf den Sachverhalt (…). Angriffs- und Verteidigungsmittel rechtlicher Natur sind davon nicht erfasst. Rechtsgutachten, Auszüge aus der Lehre oder Gerichtsentscheide sind daher vom Novenverbot grundsätzlich nicht erfasst, sofern sie innert der Beschwerdefrist (Art. 100 BGG) eingereicht werden und damit die rechtliche Argumentation der beschwerdeführenden Partei gestärkt werden soll (…).
Zu beachten ist jedoch, dass auch ein Gutachten über ausländisches Recht, Auszüge aus Lehrmeinungen oder Entscheide ausländischer Gerichte zumindest teilweise den Charakter eines Beweismittels haben, sofern die Parteien zur Feststellung des ausländischen Rechts beitragen müssen (vgl. Art. 16 Abs. 1 IPRG …). Es kommt zudem auch vor, dass eine Partei dem Bundesgericht etwa einen Entscheid mit Bezug zur Sache vorlegt, um einen behaupteten Sachverhalt zu untermauern, was im Beschwerdeverfahren unzulässig ist (…).“
BGE 150 III 89 E. 3.1.
In der Sache erwog das Bundesgericht in Erwägung 3.2, die nicht in BGE 150 III 89 publiziert wurde, dass aus den Ausführungen der Beschwerdeführerinnen nicht klar hervorgehe, inwieweit es sich bei der behaupteten Unmöglichkeit um eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne eines Ausschlusses bestimmter Klageverfahren oder um tatsächliche Hindernisse handeln solle, ein entsprechendes Verfahren erfolgreich zu durchschreiten. Das neu eingereichte Gutachten sei von vornherein nur insoweit beachtlich, als damit die rechtliche Argumentation der Beschwerdeführerinnen gestärkt werden soll. Darauf sei – soweit nötig – im Rahmen der Beurteilung der erhobenen Rügen einzugehen.
Später im Entscheid kam das Bundesgericht zum Schluss, dass sich aufgrund der Auslegung der strittigen Schiedsklausel (auf die hier nicht eingegangen wird) Ausführungen in der Beschwerde zur Beurteilung des Vorliegens und der Rechtmässigkeit materieller Enteignungen durch chinesische Gerichte als unbehelflich erweisen würden und es sich erübrige, auf das neu eingereichte Gutachten einzugehen (vgl. E. 5.4.2).
Bemerkungen
Neues Rechtsgutachten, Entscheide oder Lehrmeinungen
Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das Novenverbot gilt nach dieser Bestimmung für
- neue Tatsachen und
- neue Beweismittel.
Das Novenverbot bezieht sich also auf den Sachverhalt, auf den „état de fait„. A contrario fallen neue Angriffs- und Verteidigungsmittel rechtlicher Natur nicht unter das Novenverbot nach Art. 99 Abs. 1 BGG (BGE 150 III 89 E. 3.1; Urteile 4A_492/2021 vom 24. August 2022 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 149 III 131; 4A_80/2018 vom 7. Februar 2020 E. 2.4.1 mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer kann somit grundsätzlich erstmals vor Bundesgericht (neue) Rechtsgutachten, Auszüge aus der Lehre oder Gerichtsentscheide zur Stärkung seiner rechtlichen Argumentation vorbringen (BGE 150 III 89 E. 3.1; Urteile 4A_492/2021 vom 24. August 2022 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 149 III 131; 4A_80/2018 vom 7. Februar 2020 E. 2.4.1 mit Hinweisen). Darunter verstehe ich, dass man vor Bundesgericht eine bestehende rechtliche Argumentationslinie, die man bereits vor der Vorinstanz darlegte, mit neuen rechtlichen Quellen unterlegen kann, etwa indem neue Gerichtsentscheide (dazu Blogbeitrag #1), Lehrmeinungen oder Rechtsgutachten als Quellen für den rechtlichen Standpunkt angeführt werden. Eine völlig neue rechtliche Argumentation ist vor Bundesgericht aufgrund des Prinzips der materiellen Ausschöpfung des Instanzenzuges nicht möglich (dazu die Blogbeitrag #4 und Blogbeitrag #10).
Solche neuen Rechtsgutachten, Auszüge aus der Lehre oder Gerichtsentscheide sind, wie die übrige Begründung (Art. 42 Abs. 2 BGG), innert der Beschwerdefrist (Art. 100 BGG) einzureichen (BGE 150 III 89 E. 3.1; Urteile 4A_492/2021 vom 24. August 2022 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 149 III 131; 4A_80/2018 vom 7. Februar 2020 E. 2.4.1 mit Hinweisen), sinnvollerweise zusammen mit der Beschwerdeschrift als Beilage. Nach Ablauf der Beschwerdefrist eingereichte Unterlagen bleiben unbeachtet (vgl. für ein neues Urteil: Blogbeitrag #1).
Achtung bei blossem Verweis auf Gutachten
Im bundesgerichtlichen Verfahren muss die Begründung in der Beschwerdeschrift selbst erfolgen. Der blosse Verweis auf Ausführungen in anderen Rechtsschriften oder auf die Akten genügt nicht (BGE 144 V 173 E. 3.2.2; 140 III 115 E. 2).
Dementsprechend genügt es meines Erachtens nicht, in der Beschwerdeschrift lediglich auf ein Rechtsgutachten, auf Auszüge aus der Lehre oder einen Gerichtsentscheid zu verweisen. Vielmehr muss sich der Beschwerdeführer die Argumentation in der Beschwerdeschrift zu eigen machen und in seine Argumentation „verarbeiten“, wobei er das Rechtsgutachten (Literaturquellen oder Gerichtsentscheid) natürlich als Quelle zur Untermauerung des eigenen Standpunktes anführen kann.
Spezialfall: Ausländisches Recht
Vom Grundsatz, wonach eine neue rechtliche Argumentation nicht unter das Novenverbot von Art. 99 Abs. 1 BGG fällt, gibt es für das ausländische Recht eine Ausnahme. Nach Art. 16 Abs. 1 IPRG ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts von Amtes wegen festzustellen. Das Gericht kann aber für die Feststellung des Inhalts des ausländischen Rechts die Mitwirkung der Parteien verlangen und ihnen bei vermögensrechtlichen Ansprüchen den entsprechenden Nachweis sogar ganz überbinden (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 und 3 IPRG; BGE 138 II 217 E. 2.3).
Wenn die Parteien in diesem Sinn zur Feststellung des ausländischen Rechts beizutragen haben, unterliegen sie insoweit einer gewissen Beweisführungspflicht (BGE 138 II 217 E. 2.3). In dieser Situation kommt Gutachten über ausländisches Recht, Auszügen aus Lehrmeinungen oder Entscheide ausländischer Gerichte zumindest teilweise den Charakter eines Beweismittels zu (BGE 150 III 89 E. 3.1; BGE 138 II 217 E. 2.3; Urteile 4A_492/2021 vom 24. August 2022 E. 5.2, nicht publ. in: BGE 149 III 131; 4A_80/2018 vom 7. Februar 2020 E. 2.4.1). Konsequenz davon ist, dass sie unter das Novenverbot fallen.
Entscheide mit Bezug zur Sache
Das Bundesgericht erwähnt in BGE 150 III 89 auch, dass es vorkomme, dass eine Partei dem Bundesgericht einen Entscheid mit Bezug zur Sache vorlege, um einen behaupteten Sachverhalt zu untermauern, was im Beschwerdeverfahren unzulässig sei (BGE 150 III 89 E. 3.1). Zu denken ist etwa an die Situation, in dem nach dem angefochtenen Entscheid eine andere Behörde einen Entscheid mit Bezug zum Streitgegenstand fällte.
Beispiel: In einer markenrechtlichen Streitigkeit fällt die Löschungsabteilung des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) einen Entscheid mit Bezug zur Streitsache (so im Urteil 4A_227/2022 vom 8. September 2022 E. 1.4; dazu Blogbeitrag #1).
Als echtes Novum ist sind solche Urteile, die nach dem angefochtenen Entscheid gefällt werden, nach Art. 99 Abs. 1 BGG in tatsächlicher Hinsicht unbeachtlich. Als Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel rechtlicher Natur kann sich eine Partei vor Bundesgericht auf neue Urteile berufen (siehe oben), soweit sie innert der Rechtsmittelfrist eingereicht werden.