Blog #11: Urteil 4A_366/2023 – Anfechtung einer Beweisverfügung

Sachverhalt

Zwischen den Parteien ist vor dem Bezirksgericht ein Forderungsprozess hängig. Nach einem doppelten Schriftenwechsel erliess die Instruktionsrichterin eine Beweisverfügung, in der sie unter anderem anordnete, dass zu einem Beweisthema zwei von der Beschwerdeführerin angerufene Zeugen zu befragen seien.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Kantonsgericht und verlangte weitere Zeugenbefragungen. Das Kantonsgericht trat auf die Beschwerde nicht ein. Es drohe kein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil. Gegen den Entscheid des Kantonsgerichts erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.

Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht führte in Urteil 4A_366/2023 vom 1. September 2023 aus, dass die Beweisverfügung der Instruktionsrichterin am Bezirksgericht das erstinstanzliche Klageverfahren nicht abschliesse und weder die Zuständigkeit noch den Ausstand betreffe. Sie stelle deshalb einen „anderen selbständig eröffneten“ Zwischenentscheid im Sinne von Art. 319 lit. b ZPO dar. Der darüber ergangene, vorliegend angefochtene Rechtsmittelentscheid des Kantonsgerichts sei seinerseits ein Zwischenentscheid nach Art. 93 Abs. 1 BGG (E. 2).

Gegen solche Zwischenentscheide sei die Beschwerde nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken könnten (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Es obliege der beschwerdeführenden Partei darzutun, dass die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG erfüllt seien, soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich in die Augen springe (E. 2.1). Da das Bundesgericht bei der Gutheissung der vorliegenden Beschwerde keinen Endentscheid im Hauptverfahren fällen könne, falle die Zulässigkeit der Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG in casu ausser Betracht (E. 2.2).

Das Bundesgericht erwog sodann:

„Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung rechtlicher Natur sein, was voraussetzt, dass er durch einen späteren günstigen Entscheid nicht oder nicht mehr vollständig behoben werden kann [E. 2.3].  Nach der bundesgerichtlichen Praxis bewirken Anordnungen betreffend die Beweisführung in aller Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, da es normalerweise möglich ist, mit einer Anfechtung des Endentscheids die zu Unrecht verweigerte Beweiserhebung zu erreichen (…). Ausnahmen können bestehen, z.B. wenn ein Beweismittel, dessen Existenz gefährdet ist, verweigert wird, oder wenn bei Abnahme eines Beweismittels Geheimhaltungsinteressen auf dem Spiel stehen (…) [E. 2.3.1].“

Die Beschwerdeführerin machte im Wesentlichen geltend, ihr drohe durch den angefochtenen Entscheid ein nicht wieder gutzumachender Nachteil, weil sich die Qualität der Zeugenaussagen mit fortlaufender Dauer verringern würde (E. 2.3.2).

Das Bundesgericht teilte diese Standpunkt nicht. Es erwog, es genüge nicht, sich pauschal auf das mit dem Zeitablauf nachlassende Errinnerungsvermögen von Zeugen zu berufen.

„(….) Um einen entsprechenden Nachteil darzutun, müsste [die Beschwerdeführerin] substanziiert darlegen, hinsichtlich welcher Zeugen aufgrund von welchen besonderen Umständen zu befürchten ist, dass sie sich nicht mehr oder nicht mehr hinreichend an zu beweisende erhebliche Tatsachen erinnern könnten, beispielsweise weil sie hochbetagt wären oder an einer Krankheit litten, die sich negativ auf ihr Erinnerungsvermögen auswirkt. Entsprechende Ausführungen lässt die Beschwerdeführerin aber vollkommen vermissen. Dass die Erinnerung von Zeugen an zu beweisende Sachverhalte im Verlauf der Zeit allmählich etwas verblasst, ist nichts Aussergewöhnliches und gehört zu den allgemeinen Prozessrisiken. Bloss gestützt darauf einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil anzunehmen, der die sofortige Anfechtung einer Beweisverfügung erlaubt, hiesse die strikt anzuwendende Regel, dass Beweisverfügungen im Interesse der Prozessökonomie und der beförderlichen Führung von Prozessen nur ausnahmsweise angefochten werden können, in ihr Gegenteil zu verkehren (…) [E. 2.3.3].“ 

Hinzukomme im vorliegenden Fall, so das Bundesgericht weiter, dass die zu beweisenden Sachverhalte schon rund 4.5 Jahre zurücklägen und daher ohnehin keine zeitnahen Zeugenaussagen mehr gemacht werde könnten. Zudem habe die Instruktionsrichterin im konkreten Fall bereits angekündigt, dass nach der Einvernahme der beantragten Zeugen entschieden werde, ob weitere Abnahmen abzunehmen seien. Sie habe damit zu verstehen gegeben, dass sie je nach Ergebnis der Beweisabnahme zu einer Wiedererwägung der Beweisverfügung bereit sei. Die Beschwerdevoraussetzung, dass der Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Entscheid ein nicht wieder gutzumachender Nachteil drohe, sei somit zu verneinen (E. 2.3.3). Entsprechend trat das Bundesgericht auf die Beschwerde gegen den Zwischenentscheid nicht ein (E. 3).

Bemerkungen

Nicht wieder gutzumachender Nachteil

Gegen selbständig eröffnete Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 BGG ist die Beschwerde – abgesehen von der im vorliegenden Fall nicht in Betracht fallenden alternativen Voraussetzung nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG – nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). 

Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts rechtlicher Natur sein, was voraussetzt, dass er durch einen späteren günstigen Entscheid nicht oder nicht mehr vollständig behoben werden kann (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 147 III 159 E. 4.1; 144 III 475 E. 1.2). Rein tatsächliche Nachteile, wie die Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens, genügen nicht (BGE 147 III 159 E. 4.1; 144 III 475 E. 1.2).

Die selbständige Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden bildet aus prozessökonomischen Gründen eine Ausnahme vom Grundsatz, dass sich das Bundesgericht mit jeder Angelegenheit nur einmal befassen soll (BGE 147 III 159 E. 4.1; 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2). Die Ausnahme ist restriktiv zu handhaben (BGE 144 III 475 E. 1.2; 138 III 94 E. 2.2).

Dabei obliegt es dem Beschwerdeführer darzutun, dass die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Anfechtbarkeit eines Zwischenentscheids erfüllt sind, soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich ist (BGE 149 II 170 E. 1.3; 147 III 159 E. 4.1; 142 V 26 E. 1.2).

Beweisverfügung: Grundsätzlich kein nicht wiedergutzumachender Nachteil

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts haben Beweisverfügungen als Zwischenentscheide grundsätzlich keinen nicht wieder gutzumachenden rechtlichen Nachteil zur Folge. Es ist nämlich im Regelfall möglich, mit einem Rechtsmittel gegen den Endentscheid zu erwirken, dass der zu Unrecht verweigerte Beweis erhoben wird oder umgekehrt, die Ergebnisse des zu Unrecht erhobenen Beweises aus den Akten gewiesen werden (BGE 141 III 80 E. 1.2; Urteile 4A_366/2023 vom 1. September 2023 E. 2.3.1; 4A_274/2021 vom 6. Oktober 2021 E. 1.2; 5A_315/2012 vom 28. August 2012 E. 1.2.1).

Ausnahmen

Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen.

Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil liegt dann vor, wenn die beantragten Beweise zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erhoben werden können (Urteil 4A_307/2017 vom 20. Juli 2017 E. 2.3), etwa wenn das Gericht die Annahme eines Beweismittel verweigert, dessen Existenz gefährdet ist (Urteile 4A_366/2023 vom 1. September 2023 E. 2.3.1; 5A_745/2014 vom 16. März 2015 E. 1.2.2). Beispiel: Gefahr der Vernichtung von Geschäftsbelegen nach Ablauf der 10jährigen Aufbewahrungsfrist (Urteil 4A_269/2011 vom 10. November 2011 E. 1.3).

Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil kann auch darin liegen, dass bei der Abnahme eines Beweismittels Geheimhaltungsinteressen auf dem Spiel stehen (vgl. Urteile 4A_366/2023 vom 1. September 2023 E. 2.3.1; 4A_274/2021 vom 6. Oktober 2021 E. 1.2; 5A_745/2014 vom 16. März 2015 E. 1.2.2) und das Gericht den berechtigten Geheimhaltungsinteressen im weiteren Verfahren nicht Rechnung tragen kann (Urteile 4A_274/2021 vom 6. Oktober 2021 E. 1.2; 4A_232/2007 vom 2. Oktober 2007 E. 1.3.2; Nicolas von Werdt, Die Beschwerde in Zivilsachen, 2010, Rz. 149). Beispiel: Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen (Urteil 5A_73/2014 vom 18. März 2014 E. 3.1).

Ferner liegt eine Ausnahme vor, wenn durch die Beweisabnahme Informationen offenbart würden, obwohl in der Hauptsache darüber gestritten wird, ob eben diese Informationen herausgegeben werden müssen (Urteile 5A_823/2020 vom 7. Mai 2021 E. 1.2.2; 4A_125/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 1.4).

Darlegungsobliegenheiten

Diese Ausnahmen sind dem Bundesgericht in der Beschwerdeschrift substantiiert darzulegen. Es ist nämlich am Beschwerdeführer darzutun, dass die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG erfüllt sind, soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich ist (dazu oben).

Wird wie im vorliegenden Fall eine weitere Zeugenbefragung verlangt, darf man sich als Beschwerdeführer nicht mit Allgemeinplätzen begnügen, wonach das Erinnerungsvermögen von Zeugen mit der Zeit nachlässt. Vielmehr ist hinreichend darzulegen, aufgrund welcher konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalls zu befürchten ist, dass sich der Zeuge an die zu beweisende Tatsache nicht mehr oder nicht mehr hinreichend erinnern kann (Urteil 4A_366/2023 vom 1. September 2023 E. 2.3.3).

Konkret kann beispielsweise dargelegt werden, dass der Zeuge sehr alt ist oder an einer Krankheit leidet, die sich negativ auf sein Erinnerungsvermögen auswirkt. Hierzu würde ich empfehlen, das Alter des Zeugen darzulegen sowie seinen Gesundheitszustand und seine Krankheit genau zu schildern (medizinische Fachbegriffe würde ich – soweit nicht allgemein bekannt – verständlich erläutern).

Tipp: Bei den Sachurteilsvoraussetzungen lohnt es sich meines Erachtens meist, mehr zu schreiben (dazu bereits Blog #3 und Blog #5) und genau zu erklären, warum unter den konkreten Umständen die Ausnahme greifen soll und ein nicht wieder gutzumachender Nachteil vorliegt.

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