Blog #4: Ausschöpfung des materiellen Instanzenzugs

Was wird unter der materiellen Ausschöpfung des Instanzenzugs verstanden?

Die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht ist gemäss Art. 75 Abs. 1 BGG gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen zulässig. Entscheiden diese nach dem Grundsatz von Art. 75 Abs. 2 BGG als Rechtsmittelinstanzen, so ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs unabdingbare Voraus­setzung für die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht. Der Begriff der Letztinstanzlichkeit bedeutet nach dieser Rechtsprechung, dass der kantonale Instanzenzug nicht nur formell durch­laufen, sondern auch materiell ausgeschöpft werden müsse, indem die Rügen, die dem Bundesgericht unterbreitet würden, soweit möglich schon vor Vorinstanz vorzubringen seien (BGE 145 III 42 E. 2.2.2; 143 III 290 E. 1.1). Die rechtsuchende Partei müsse sich demnach in der Beschwerde an das Bundesgericht mit den Erwägungen der letzten kantonalen Instanz zu den Rügen auseinander­setzen, die sie bereits vor dieser letzten kantonalen Instanz vorgebracht habe. Sie dürfe der Vorinstanz die ihr bekannten rechtserheblichen Einwände mithin nicht vorenthalten, um sie erst nach einem ungünstigen Entscheid im anschliessenden bundesgerichtlichen Verfahren zu erheben (BGE 146 III 203 E. 3.3; vgl. der Beitrag der Bundesrichter Fabienne Hohl / Grégory Bovey, Dix ans de Code de procédure civile: bilan et perspectives, ZSR 140 [2021] I S. 509 ff., S. 537). Diese Rechtsprechung wird in der Lehre teilweise kritisiert, etwa bei Urs Fasel, Abschied von iura novit curia und der Rechtseinheit?, SJZ 118 [2022], S. 934 ff.

Tipp

Alle rechtlichen Rügen bereits vor der Vorinstanz vorbringen, sonst besteht die Gefahr, dass die zivilrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts mangels Ausschöpfung des materiellen Instanzenzugs darauf nicht eintreten.

Bei gänzlich neuen rechtlichen Fragestellungen wird es im Übrigen zumeist auch am Sachverhaltsfundament für die Rüge fehlen (Art. 105 BGG), z.B. für das erstmalige Vorbringen vor Bundesgericht, der Aktienerwerb verstosse gegen das Bewilligungsgesetz (Urteil 4A_501/2018 vom 3. Dezember 2018 E. 4.3).

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