Blog #7: Rechtliches Gehör, Begründungsanforderungen

Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (und Art. 53 Abs. 1 ZPO) haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör.

Das Bundesgericht betont in seinen Entscheiden, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör formeller Natur sei, so dass seine Verletzung unabhängig von der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führe. Das bedeute aber nicht, dass es in jedem Fall genüge, vor Bundesgericht bloss die Verletzung des rechtlichen Gehörs zu rügen und die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids zu verlangen. Die Gewährung des rechtlichen Gehörs sei kein Selbstzweck. Es bestehe kein Interesse an der Aufhebung des kantonalen Entscheids, wenn für das höchste Gericht nicht ersichtlich ist, inwiefern sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs auf das Verfahren auswirken könnte (dazu: BGE 147 III 586 E. 5.2.1; BGE 143 IV 380 E. 1.4.1; je mit weiteren Hinweisen). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz allein aufgrund der festgestellten Gehörsverletzung zu einem Leerlauf und einer unnötigen Verzögerung führen würde (Urteile 4A_30/2021 vom 16. Juli 2021 E. 4.1; 4A_438/2019 vom 23. Oktober 2019 E. 3.2; je mit weiteren Hinweisen).

Dementsprechend verlangt das Bundesgericht für eine erfolgreiche Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, dass die beschwerdeführende Partei in der Begründung der Beschwerde in Zivilsachen auf die Erheblichkeit der behaupteten Gehörsverletzung eingeht und angibt, welche Vorbringen sie im kantonalen Verfahren bei Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgebracht hätte und inwiefern diese Vorbringen hätten erheblich sein können (vgl. Urteile 5A_83/2021 vom 12. November 2021 E. 2.4; 4A_30/2021 vom 16. Juli 2021 E. 4.1; 4A_438/2019 vom 23. Oktober 2019 E. 3.2; grundlegend: Urteil 4P.189/2002 vom 9. Dezember 2002 E. 3.2.3). Unterlässt die Partei dies, tritt das Bundesgericht auf die Rüge nicht ein.

Beispiele

Im Verfahren 5A_83/2021 rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil ihm erst zusammen mit dem Urteil eine Eingabe der Prozessgegnerin zugestellt worden sei. Das Bundesgericht erwog dazu:

„Dem Beschwerdeführer ist einzuräumen, dass die Mitteilung von Eingaben der Parteien erst mit dem gefällten Urteil unter dem Blickwinkel des Anspruchs auf rechtliches Gehör Bedenken weckt […]. Fallbezogen hat es sich um die Erklärung der Beschwerdegegnerin gehandelt, auf die Hauptverhandlung zu verzichten. Welche Tatsachenvorbringen der Beschwerdeführer in Kenntnis der Erklärung noch gerne eingebracht hätte, legt er nicht dar. Auf seine Rüge ist deshalb nicht einzutreten und damit der Gefahr zu begegnen, dass die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz allein wegen der festgestellten Gehörsverletzung zu einem Leerlauf und einer unnötigen Verzögerung führt. [Hervorhebung hinzugefügt]“

Urteil 5A_83/2021 vom 12. November 2021 E. 2.5.

Im Verfahren 4A_438/2019 beanstandete der Beschwerdeführer, dass ihm in erstinstanzlichen Hauptverhandlung nur 10 Minuten Zeit eingeräumt worden sei, um sich mit der schriftlichen Duplik der Beschwerdegegnerin auseinanderzusetzen. Das Bundesgericht führte dazu aus:

„Der Beschwerdeführer begnügt sich pauschal geltend zu machen, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei, da ihm die Erstinstanz vor der Hauptverhandlung zu wenig Zeit gewährt habe, sich mit der Duplikschrift der Beschwerdegegnerin auseinanderzusetzen. Er zeigt aber in der Beschwerde vor Bundesgericht nicht ansatzweise auf, welche Vorbringen er in das kantonale Verfahren eingeführt hätte, wenn ihm mehr Zeit gewährt worden wäre, sich mit der gegnerischen Eingabe zu befassen, und inwiefern diese Vorbringen hätten erheblich sein können [Hervorhebung hinzufügt]. Auf seine Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ist daher nicht einzutreten.“

Urteil 4A_438/2019 vom 23. Oktober 2019 E. 3.3.

Lehren aus dieser Rechtsprechung

Rügt man vor Bundesgericht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, so genügt es nicht, die Verletzung dieses Anspruchs bloss zu behaupten und die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu fordern. Vielmehr ist auch darzulegen, was im kantonalen Verfahren bei Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgebracht worden wäre und inwiefern dieses Vorbringen hätte erheblich sein können.

Dazu können unter Umständen wenige Worte genügen, wenn der Einfluss des Vorbringens auf das Verfahren auf den ersten Blick erkennbar ist. Ist dies hingegen nicht ohne Weiteres ersichtlich, ist es ratsam, weitergehende Ausführungen zu machen. Es muss deutlich gemacht werden, (i) was man hätte einbringen können und (ii) wie das Vorgebrachte einen Unterschied im Prozess hätte machen können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das Bundesgericht auf die Rüge nicht eintritt.

Ähnliche Beiträge