Blog #6: Urteil 4A_556/2022

Mit Urteil 4A_556/2022 vom 4. April 2023 fällte das Bundesgericht einen lesenswerten Entscheid betreffend die Fristwahrung sowie die diesbezüglichen Behauptungs- und Beweisobliegenheiten. Der Entscheid betrifft die Zivilprozessordnung. Die Erwägungen sind meines Erachtens aber von allgemeiner Tragweite und können auf die Fristwahrung bei einer Beschwerde ans Bundesgericht (Art. 100 Abs. 1 BGG) übertragen werden.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer erhob gegen einen Entscheid der Schlichtungsbehörde Beschwerde nach Art. 319 ff. ZPO an das Obergericht. Das Obergericht trat auf die Beschwerde nicht ein, weil die Beschwerdefrist nicht eingehalten worden sei. Das Obergericht erwog dazu, das Couvert sei mit einem „WebStamp“ frankiert und weise keinen Poststempel auf. Aus der Sendungsverfolgung ergebe sich, dass die Sendung am Samstag, 24. September 2022, im Postfach des Obergerichts eingegangen sei. Da eine A-Post-Plus-Sendung für gewöhnlich am folgenden Werktag zugestellt werde, sei davon auszu­gehen, dass der Beschwerdeführer die Beschwerde am Freitag, 23. September 2022, der Schweizerischen Post übergeben habe. Die Beschwerdefrist sei aber am Donnerstag, 22. September 2022, abgelaufen. Eine frühere Auf­gabe bei der Post habe der Beschwerdeführer innert Beschwerdefrist weder geltend gemacht noch belegt. Auf die Beschwerde sei daher wegen Verspätung nicht einzutreten (Sachverhalt B).

Vor Bundesgericht rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Obergericht habe ihm keine Möglichkeit gewährt, sich zur Rechtzeitigkeit seiner kantonalen Beschwerde zu äussern (Erwägung 2). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut.

Allgemeine Erwägungen

Das Bundesgericht erwog in Erwägung 2.1. vorab in allgemeiner Weise:

„Gemäss Art. 143 Abs. 1 ZPO sind Eingaben spätestens am letzten Tag der Frist beim Gericht einzureichen oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung zu übergeben. Entscheidendes Kriterium für die Rechtzeitigkeit einer schriftlichen Eingabe ist demnach nicht das Eintreffen der Eingabe am letzten Tag der Frist beim Gericht (sog. Empfangsprinzip), sondern deren Übergabe an die Schweizerische Post bzw. an eine schweizerische diplomatische oder konsularische Vertretung (sog. Expeditionsprinzip; […] [Hervorhebung hinzugefügt]).

Die Frist darf bis zur letzten Minute des Tages ausgeschöpft werden. Der Absender trägt jedoch die Beweislast für die rechtzeitige Aufgabe. Ihm obliegt mithin der Nachweis, dass er seine Eingabe bis um 24:00 Uhr des letzten Tages der laufenden Frist der Post übergeben hat. Der Beweis wird in der Regel mit dem Poststempel erbracht […]. Soweit der Einwurf bei der Post nach Schalterschluss erfolgt und deshalb offensichtlich ist, dass der Eingangsstempel auf ein späteres Datum lauten wird, hat der Absender aufgrund der Vermutung, wonach das Datum des Stempels mit demjenigen der Übergabe übereinstimmt, geeignete Beweisvorkehrungen zu treffen für die Behauptung, die Sendung schon am Vortag der Abstempelung oder sogar noch früher in einen Briefkasten eingeworfen zu haben, um so die Vermutung zu widerlegen […].

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss ein Rechtsanwalt sich des Risikos bewusst sein, dass seine Sendung nicht am gleichen Tag abge­stempelt wird, wenn er sie nicht am Postschalter aufgibt, sondern nach Schalterschluss in einen Briefkasten einwirft. Schafft ein Rechtsanwalt eine derartige verfahrens­mässige Un­sicherheit über die Fristwahrung, muss er unaufgefordert („spontanément“) und vor Ablauf der Rechts­mittelfrist Beweismittel für die Behauptung der Recht­zeitigkeit anbieten, indem er beispielsweise auf dem Briefum­schlag vermerkt, die Postsendung sei kurz vor Fristablauf in Anwesenheit von Zeugen in einen Briefkasten gelegt worden […]“ [Hervorhebung hinzugefügt]

Im konkreten Fall

Das Bundesgericht hielt fest, dass sich das Obergericht auf die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung bezogen habe. Der Beschwerdeführer habe seine Beschwerde­schrift jedoch nicht nach Schalter­schluss in einen Briefkasten einge­worfen und damit eine verfahrens­mässige Unsicherheit geschaffen. Vielmehr habe er seine Beschwerdeschrift bei der Post als eine A-Post-Plus-Sendung aufge­geben. Nehme die Post eine Eingabe als A-Post-Plus-Sendung entgegen, bestehe für die Partei kein Anlass an der Rechtzeitigkeit der Übergabe der Sendung an die Post zu zweifeln und unaufge­fordert Behauptungen zur Recht­zeitigkeit der Eingabe aufzustellen und dafür Beweismittel anzubieten (Erwägung 2.2).

Fänden sich in den Akten keine Angaben über den Zeitpunkt der Postaufgabe und treffe die Beschwerdeschrift, wie im vorliegenden Fall, bloss zwei Tage nach Fristablauf bei der Vorinstanz ein, so dürfte sich diese nicht damit begnügen, gestützt auf das Zugangsdatum Mutmassungen zum Aufgabezeitpunkt anzustellen und gestützt darauf auf die Beschwerde nicht einzutreten. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV garantiere dem Beschwerdeführer, dass das Gericht in einer solchen Situation bei ihm eine Rückfrage vornehme, damit er sich zum Zeitpunkt der Aufgabe der Eingabe äussern und allfällige Beweismittel vorbringen kann. Dadurch werde sichergestellt, dass der Beschwerde­führer seiner Behauptungs- und Beweislast für die rechtzeitige Aufgabe der Eingabe nachkommen könne (Erwägung 2.4).

Das Bundesgericht bejahte eine Gehörsverletzung, hiess die Beschwerde gut, hob den Entscheid des Obergerichts auf und wies die Sache zur erneuten Beurteilung der kantonalen Beschwerde an das Obergericht zurück (Erwägung 3).

Lehren aus dem Entscheid

Eingaben an das Gericht sind vorzugsweise als eingeschriebene Sendung oder als A-Post-Plus-Sendung zu versenden, damit die Rechtzeitigkeit der Übergabe an die Post gegenüber dem Gericht einfach nachgewiesen werden kann. Möchte man das Porto für eine eingeschriebene Sendung oder eine A-Post-Plus-Sendung sparen, würde ich empfehlen, das Schreiben am Postschalter abzugeben und darauf zu bestehen, dass die Post das Schreiben mit dem Poststempel abstempelt. Zusätzlich würde ich kontrollieren, dass der Poststempel gut lesbar ist und mit dem richtigen Datum abgestempelt wurde (vgl. zur irritierenden Praxis der Post, Eingaben mit dem Datum des nächsten Tages vorzudatieren: Urteil 8C_237/2017 vom 4. Oktober 2017 E. 5.2.1).

Ist die Post bereits geschlossen und ist man als Rechtsanwalt gezwungen, die Eingabe nach Schalterschluss in einen Briefkasten einzuwerfen, muss man nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dem Gericht unaufgefordert und vor Fristablauf Behauptungen für die Rechtzeitigkeit der Postaufgabe vorbringen und Beweismittel anbieten. Ob diese Rechtsprechung auch für nicht anwaltlich vertretenen Personen gilt, hat das Bundesgericht bisher und auch in diesem Entscheid offen gelassen (Erwägung 2.2).

Aus Sorgfaltsüberlegungen würde ich empfehlen, bei jedem Briefkasteneinwurf einer gerichtlichen Eingabe einen solchen Vermerk auf dem Couvert anzubringen oder entsprechendes direkt in der Eingabe auszuführen. Das unabhängig davon, ob man anwaltlich vertreten ist oder nicht und auch unabhängig davon, ob der Einwurf vor oder nach Schalterschluss bzw. vor oder nach den auf dem Briefkasten angegebenen Leerungszeiten erfolgte.

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